Jörg-Peter Mittmann:

Werkkommentare (Auszüge):

"Chiarina" (1987)

Drei musikalische Palingenesen für Klavier
I. Aufschwung - II. Nachtstück - III. Arabeske

UA 1988 in Herford

Palingenese heißt allgemein "Wiedergeburt", konkret hier die Aufnahme Schumannscher Themen: Sehnsucht, Unaussprechlichkeit, Transzendenz, Ironie. Dabei verwendet meine Musik Mittel, die den direkten Bezug zur Tonalität der Romantik meiden, wohl aber spezifische Ideen Schumanns wie etwa die "innere Stimme" aufgreifen.

"Traum des Bösen" (1993)

Trio nach einem Gedicht von G.Trakl für Englischhorn, Klarinette und Horn (1993)

UA 1993 Münster Ensemble Horizonte

Trakls Gedicht "Traum des Bösen" beschäftigte mich erstmals im Sommer 1983. Es war die geheimnisvoll unwirkliche Atmosphäre von lähmender Schwüle und untergründiger Bedrohlichkeit, die mich gefangennahm. Die Idee der Vertonung ging von Anfang an einher mit einer bestimmten Klangvorstellung, die nach genau dieser Besetzung verlangte: Englischhorn, Klarinette und Horn. So wie diese Instrumente von spätromantischem Sentiment "vorbelastet" sind, knüpft auch die Komposition an das Idiom der Wende zum 20. Jahrhundert an, um es einer grotesken Verfremdung zu unterziehen.

"...dem All-Einen" (Exkurse I, 1995)

szenische Kammermusik für Gesang. Oboe, Violine, Viola, V’cello und Klavier

UA 11.6.1995 Stadttheater Minden; Mitglieder des Ensemble Horizonte

In der Komposition Exkurse I "...dem All-Einen" verbinden sich musikalische und philosophische Motive zu einem imaginären Diskurs über den Pantheismus - ein Diskurs, wie er seit Friedrich Heinrich Jacobis Schrift "Über die Lehre des Spinoza" (1785) in den geistig-künstlerischen Zirkeln jener so bewegten Zeit häufig anzutreffen war. Gott als Person, als Schöpfer der Welt, die Freiheit göttlichen wie menschlichen Handelns, die Verantwortung des Subjekts: das alles wird durch den Spinozismus mit erschreckender Konsequenz zugunsten einer Gleichsetzung von Gott und Natur infragegestellt. So kam es einer Sensation gleich, daß Jacobi in seiner Schrift Lessings Affinität zu dem verfemten jüdischen Philosophen Spinoza dokumentiert. Hen kai Pan! - Eines und Alles! diese Worte werden in der Folgezeit zum Schlachtruf einer Spinoza-Renaissance, die Goethe, Hölderlin, Schelling, Hegel u.v.a. erfaßte und Grundlage für die romantische Verehrung der Natur als lebendiger Einheit von Mensch und Universum im alles umschließenden Urprinzip des All-Einen wurde.

Kulminiert die entsprechende musikalisch-gedankliche Entwicklung in der Vorstellung einer Selbstaufgabe des Subjekts, so schlägt die Komposition jäh um: sie mündet in einer sehr persönlichen Apotheose der Kunst, des Erlebens und Erfühlens, vermittelt durch Worte Hölderlins und ein ausgedehntes Zitat aus Schuberts Klaviersonate A-Dur, die untergründig das gesamte musikalische Material präformiert. Moritz von Schwinds Bild "Schubert im Kreis seiner Freunde" stand Pate für die szenische Grundidee des Stückes.

"Sphärische Polyphonie" (1995)

für Flöte Englischhorn, Vibraphon, Harfe, Celesta, Violine, Viola, V’cello
nach dem Bild "Gelb-Rot-Blau" von W.Kandinsky

UA 1996 in Lemgo, Ensemble Horizonte

Meine Komposition "Sphärische Polyphonie" ist angeregt von Wassily Kandinskys Bild »Gelb Rot Blau«. An diesem faszinierenden Werk reizte mich besonders die heitere Klarheit und phantasievolle Überlagerung elementarer Formen und Farben, mit denen sich mir sogleich Klangvorstellungen verbanden. Die Komposition erwächst aus einem in der Celesta vorgestellten Anfangsmotiv, das in fortwährender Variation die elementaren Gestalten der Komposition erzeugt, Gestalten, die bisweilen ausufern, dann wieder kollabieren, neuen Gedanken Platz machen. Der Grundcharakter ist geprägt von einer heiteren Einfachkeit, der transparent-polyphonen Überlagerung vielschichtiger Klangfarben.

"Kreuzgesang" (1996/97)

für Frauenstimme, Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Cembalo, Harfe, Violine, Viola, V’cello
auf Texte von Fr. Nietzsche, Th. von Aquin u.a.

UA 1997 in Halle, Ensemble Horizonte, Gerhild Romberger (Alt)

Auftragskomposition der "Haller Bach-Tage"

Konzertmitschnitt Radio Bremen 2002

Die Komposition "Kreuzgesang" ging hervor aus der Beschäftigung mit dem Thema der Kreuzigung und ihrer christlichen Symbolkraft. Je länger ich über das, was mir durch kirchliche Tradition und die künstlerische Verarbeitung insbesondere in den Passionen Bachs vertraut war, nachdachte, desto fragwürdiger und erschreckender erschien mir das Selbstverständnis, aus dem heraus sich eine Hinrichtungsszene zum Symbol göttlichen Heils für diese Welt entwickeln konnte. So entstand eine Komposition, deren radikale Polarität schon in der Textwahl zum Ausdruck kommt: Mit Thomas von Aquin wird erklärt, warum das Kreuz anbetungswürdig sei, mit Nietzsche wird die verkommene Amoral christlicher Lehre gegeißelt. Die Dynamik der Gegensätze drängt einer textlich-musikalischen Engführung zu, die im Zustand tiefsten Zweifels jäh abbricht und einem verhaltenen Epilog, verfremdetes Zitat aus dem Crucifixus der h-moll-Messe Bachs, weicht.

"Bilder des Südens" (1997)

für Flöte, Klarinette/Bassetthorn, Harfe, Klavier, Violine, Viola, V’cello
nach drei Bildern von Paul Klee ("Garten im Orient" - "Lagunenstadt" - "Häuser am Meer")

UA 12.3.1997 in Hamm, Ensemble Horizonte

Auftragskomposition des Gustav-Lübcke-Museums, Hamm

Konzertmitschnitt DeutschlandRadio Berlin 2000

Die Komposition »Bilder des Südens« entstand 1997 als Auftragskomposition des Gustav-Lübcke-Museums Hamm. Es geht darin weniger um eine minutiöse musikalische Umsetzung der drei Bilder von Paul Klee, denen die Sätze ihren Namen verdanken. Vielmehr folge ich Klee in dem Versuch, eigene, ganz konkrete Reiseeindrücke zum Ausgangspunkt künstlerischer Arbeit zu machen: der verwilderte Garten um ein verlassenes Gehöft in Tunesien, ein Gang durch das sommerliche Venedig morgens vor Sonnenaufgang, die engen Gassen von Riomaggiore/Cinqueterre. Immer sind es atmosphärische Nuancen, kaum beschreibbar, die ich in Tönen festhalten wollte.

ascendant I - IV (1997/98/2000)

für verschiedene Besetzungen

UA 1997/98/2000 in Detmold/Bielefeld/Minden

Auftragskomposition des Landes Nordrhein-Westfalen

Die Kompositionen dieser Reihe stehen in engem Zusammenhang mit interdisziplinären Projekten, etwa der visuellen Inszenierung durch Installationen, Lichtprojektion oder Tanz. Ihr gemeinsames Thema ist die "Magie des Werdens", der Prozeß eines Aufsteigens, der Progression von einfachstem Ausgangsmaterial zu immer höheren Komplexitätsgraden, basierend auf konkreten Regelfolgen. Im Kontrast zum organischen Charakter dieser "Selbstorganisation" des Materials steht die vielfach starre und klanglich skurril gebrochene Mechanik der instrumentalen Motive.

Die Werkgruppe ascendant I-IV steht in engem Zusammenhang mit interdisziplinären Projekten, etwa der visuellen Inszenierung durch Installationen, Lichtprojektion oder Tanz. Ihr gemeinsames Thema ist die "Magie des Werdens", der Prozeß eines Aufsteigens von einfachstem Ausgangsmaterial zu immer höheren Komplexitätsgraden, basierend auf konkreten Regelfolgen. Im Kontrast zum organischen Charakter dieser "Selbstorganisation" des Materials steht die vielfach starre und klanglich skurril gebrochene Mechanik der instrumentalen Motive. Darauf spielt der Titel "Danse macabre" an, der den traditionellen "Totentanz" in den Kontext einer makabren Euphorie zunehmender Funktionalisierung des Individuums stellt.

"Gegenstücke" (1998)

Zyklus für Flöte, Oboe, Schlagzeug, Harfe, Violine, Viola, V’cello

UA 1998 in Bielefeld

CD-Produktion Radio Bremen

Der Zyklus Gegenstücke beschäftigt sich auf vielfältige Weise mit dem Thema Zeit und Zeiterfahrung. Der Titel deutet dabei auf ein Theorem der Philosophie Kants hin, die Lehre von den inkongruenten Gegenstücken. Daß zwei Dinge, z.B. die rechte und die linke Hand, trotz völliger Übereinstimmung ihrer begrifflichen Beschreibung nicht zur Deckung zu bringen und also allein aufgrund ihrer Lage im Raum als verschieden erkannt werden, dient Kant gegen Leibniz als Beleg für die fundamentale Rolle, die Anschauung neben Begriffen in unserem Erkenntnisprozeß spielt. In der Komposition Gegenstücke werden diese Überlegungen ins Medium der Zeit übertragen. Immer geht es um Gleichheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit klanglicher Gestalten. Die Musik gibt sich dabei plastisch, klar, gelegentlich fast plakativ.


Zeitlinien
Engführung - gebrochen
kristallin
Parenthese
Solo I
Enigma
Invention
elliptisch
Solo II - invers
Am Ende der Parabel

 

"Dona nobis pacem" (1998)

Konzertszene für Solo-Violine, Flöte, Klarinette, Fagott, Horn, Schlagzeug, Harfe, Viola, V’cello)

UA 1998 in Dalheim, Ensemble Horizonte, Christiane Volpert (Violine)

Konzertmitschnitt WDR 2000

Meine Komposition "Dona nobis pacem" könnte man als ein "negatives Violinkonzert" charakterisieren. Der Solist spielt sich nicht dynamisch virtuos in den Vordergrund, sondern gesellt sich zunächst fast unhörbar den bizarr spitzen Klängen des Ensembles, extremen Verfremdungen des Akkordmaterials aus Beethovens Eroica und Bachscher Passionschöre, hinzu und breitet eine zarte, fragile Kantilene aus. Oftmals hoffnungslos übertönt, parodiert, verhöhnt, bleibt das verletzliche Individuum doch in sich ruhend, während die Gruppe eine zunehmend nervös aggressive Dynamik entfaltet, die in absurder Hast kulminiert und kollabiert. Schließlich stimmen die Spieler nach und nach in den leisen Gesang der Violine ein und das Stück klingt in einem entrückt-friedvollen Adagio aus.

"Sie heißen mich Mignon" (1999)

Psychogramm für Sprecher, Sängerin, Klavier und Ensemble (Flöte/Altflöte, Oboe, Harfe, Violine, Viola, Violoncello)

UA 1999 Herford (abendfüllend)

Auftragskomposition des Stadttheaters Herford

Das abendfüllende Melodram "Sie heißen mich Mignon" rankt um die vier Mignon-Lieder Hugo Wolfs und ausgewählte Textpassagen aus Goethes Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" (1795/96) ein musikalisches Psychogramm, das die Beziehung Wilhelm Meisters - dem Goethe vielfach autobiographische Züge verleiht - zu dem rätselhaften Mädchen Mignon beleuchtet. In Mignon schuf Goethe eine literarische Gestalt, die wie kaum eine andere die Phantasie der Nachwelt anregte: Aus erinnerungslosem Dunkel taucht sie auf, ein Wesen, das zwischen scheuer Verschlossenheit und aufopferungsvoller Liebe schillert, das - halb Kind halb Frau – in eine äußerst zweideutige, an Tabus rührende Beziehung zu ihrem Beschützer Wilhelm Meister tritt und schließlich von Sehnsucht verzehrt stirbt. Kein Wunder, daß die außergewöhnliche Romangestalt neben Werken wie Schumanns "Requiem für Mignon" oder Ambroise Thomas' "Mignon"-Oper einige der schönsten Kunstlieder der Romantik inspirierte.

"Sie heißen mich Mignon" ist eine Liebeserklärung an die Sprache Goethes und die Musik der Romantik, aber auch eine sezierende Analyse der Gefühls- und Lebenswelt der Weimarer Klassik. In herb-dissonanter Erregung beginnt das Stück mit Wilhelms eruptiv ausbrechendem Selbstzweifel hinsichtlich seiner künstlerischen Begabung. Anlaß ist die gescheiterte Beziehung zu Mariane. Ein Muster deutet sich an, das die gesamte Geschichte durchziehen wird: die Koinzidenz von künstlerischem Impetus und Liebesglück. So werden Frauen für Wilhelm gleichsam als "Musen" zu Vehikeln einer theatralischen Selbstverwirklichung. Mignon freilich mag sich nicht widerstandslos in das Schema einpassen. Und so nimmt die Tragik einer Beziehung ihren Lauf, die sich allen gängigen Kategorisierungen entzieht.

"Landschaften der Seele" (2000)

Streichquartett mit Worten von Paul Eluard

UA der endgültigen Fassung: Potsdam 16.3.2002 Vogler-Quartett Konzertmitschnitt ORB

In meinem Streichquartett „Landschaften der Seele“ tritt die rein musikalische Formgebung zurück gegenüber einer, wie ich es nennen möchte, „phänomenologischen“ Arbeitsweise. Seelische Vorgänge in ihrer ganz eigenen Zeitlichkeit und Logik finden sich unmittelbar in klangliche Gesten umgesetzt. Zwischen vordergründigen Emotionen und archetypischen Gestalten inneren Erlebens öffnen sich komplexe Bewußtseinsräume, „Landschaften“, deren Topologie mal eben, mal brüchig, mal verschlungen, mal planvoll anmutet. Nur erahnen läßt sich die das Stück durchwirkende musikalische Struktur einer Passacaglia, basierend auf acht Akkorden, die zu Beginn erscheinen. Mit der sukzessiven Zersetzung dieser „Oberfläche“ wird eine Schicht freigelegt, in der sich klangliche und sprachlich-semantische Momente, basierend auf einem Gedicht Paul Eluards, aufs engste miteinander verschränken.


Paul Eluard: Retraite ( aus: Poésie et vérité, 1942 )

Je sens l’espace s’abolir
Et le temps croître en tous sens.

99 und eins (2000)

für Bläserquintett, Pantomime und elektronische Klänge

Kennen Sie das ? Ein Jubiläum steht ins Haus, willkommener Anlaß für besinnliche Rückblicke, Stolz auf das Erreichte und Zuversicht für die künftige Entwicklung: die gerade Zahl als Vehikel der Sinnstiftung. Nur, manchmal mag sie nicht recht gelingen, die kollektive Erhöhung des pathetischen Augenblicks, vor allem dann. wenn der Anlaß so abstrakt ist, wie etwa ein Jahrtausendwechsel. Man möchte alle Gedanken zusammenfassen und auf den illustren Moment konzentrieren. Da darf nichts fehlen. Man will sich aber auch nicht zu sehr verzetteln. Nur leider wird schon bald deutlich, daß jeder sein eigenes Fazit aus der Geschichte zieht, seine eigene Zukunftsperspektive mitbringt und so seine ganz individuelle Vorstellung vom großen Jahrestag hat. Man möchte Symbole setzen, aber schon beginnt man sich über Ziele, Inhalte und Gestaltung zu streiten. Bedeutungen werden aufgeschichtet bis sie den feierlichen Moment gnadenlos überfrachten. Die Sinnstiftung verkehrt sich in ihr Gegenteil.

Ein solch absurdes Szenario entwarf Robert Musil in seinem Roman “Der Mann ohne Eigenschaften“. Ist es dort das 70-jährige Kronjubiläum Kaiser Franz Josefs (das der steinalte Greis vorhersehbar nicht mehr erlebte), das schon Jahre zuvor einen gewissen Aktionismus hervorruft, so bleibt der äußere Anlaß in »99 und eins« offen. Aus dem Roman werden immer wieder Floskeln übernommen und dem Szenenspiel der fünf Musiker unterlegt, während die Pantomime stumm dem Unheil seinen Lauf läßt.

"The View from Nowhere" (2000)

für Gitarre, Klavier, Violine, Viola und V’cello

UA Münster 19.10.2000 Ensemble Horizonte CD-Produktion ambitus

Kompositionsauftrag des Landes Nordrhein-Westfalen

Der Titel meiner Komposition bezieht sich auf ein Buch von Thomas Nagel. Darin diskutiert dieser prominente Vertreter der Analytischen Philosophie des Geistes insbesondere Fragen zur Stellung des Menschen in einer Welt, die so recht keinen Raum mehr für die klassische Idee der Subjektivität lassen mag. Aktualität erlangen Nagels gelegentlich wunderbar skurrile Gedankengänge vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung in Genetik, Neurophysiologie und der Erforschung künstlicher Intelligenz. Schon bald werden Fragen der Abgrenzung zwischen Mensch und Maschine, zwischen Geschöpf und Produkt die ethischen Diskussionen bestimmen. Werden erst einmal Mikrochips als „intelligente Assistenten“ dem menschlichen Hirn eingepflanzt, dann entstehen ganz neue Fragen nach der Autonomie, Verantwortlichkeit und Identität derart manipulierter Wesen, Fragen, die zum Teil auch das „genetische Design“ künftiger Menschen aufwerfen werden. Ab wann schließlich eine intelligente Maschine so etwas wie eine „Würde“ und damit Grundrechte beanspruchen kann, wird möglicherweise eines Tages ebenfalls auf der Agenda ethischer Entscheidungen stehen.

Vielleicht ist angesichts solcher Aussichten der leise Zwischenruf des Subjektivitätstheoretikers zu verstehen, der zu bedenken gibt, daß eine irreduzible Ebene bewußten Erlebens eine nach wie vor unüberwindliche Kluft zwischen künstlicher und natürlicher Intelligenz aufrecht erhält. Unsere Welterfahrung ist notwendig perspektivisch, also eben nicht „The View from Nowhere“, und der Ursprungspunkt dieser Perspektive, das Sein-Für-Mich, die unmittelbare Erlebnisqualität dessen, was meine Sinne aufnehmen, ist der blinde Fleck im Auge des Physikalisten.

Mag es ein genereller Wesenszug meiner Musik sein, dem Charakter solcher „unmittelbaren Erlebnisqualitäten“ nachzuspüren, so wird dies in „The View from Nowhere“ zum beherrschenden Thema. Wie eine „innere Stimme“ entwickelt sich ein ephemeres Melos, das in verschiedenen Formen der Verarbeitung und Verzerrung seine Identität bewahrt und sich so als resistent erweist gegen jeden Versuch der Reduktion auf seinen objektiven Gehalt.

autopoiesis (2001/2)

für Klarinette/Baßklar., Horn, Schlagzeug, Klavier, Violine und V’cello

UA 2001 in Detmold, Stadthalle

Konzertmitschnitt WDR 2003

Der Begriff „autopoiesis“ wird gewöhnlich zur Charakterisierung organischer Lebensformen herangezogen. Aber das Bild von dem im Wortsinn »sich selbst aus sich selbst erzeugenden« Naturwesen wird spätestens seit der Zeit des Deutschen Idealismus mit gehöriger Emphase auch auf Philosophie und Musik angewandt. Steht dahinter meist ein optimistisch getöntes Lebensgefühl – man denke nur an Beethovens 5. Sinfonie - , so wendet sich die Autopoiese in meiner Komposition ins Negative eines immer wieder beklemmenden, außer Kontrolle geratenden Prozesses, an dessen Ende die Selbstauslöschung des musikalischen Materials steht.

Traumspiel (2002)

Schubert-Paraphrase für großes Orchester

UA 10.2.2003, Paderborn, AudiMax der Universität, Hochschulorchester Paderborn

Der Titel der Komposition nimmt Bezug auf das Prosa-Fragment „Mein Traum“, das Franz Schubert in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu seiner h-moll-Symphonie, der „Unvollendeten“, im Herbst 1822 verfaßte. Der Topos des einsamen Wanderers, wie ihn später die „Winterreise“ so eindrücklich prägt, steht im Zentrum des Schubert-Textes. Mich hat die existentielle Tiefe der Musik Schuberts, ihre radikalen Brüche, ihre Doppelbödigkeiten und ihre Momente zeitloser Entrückung immer besonders berührt. Nicht zufällig zitiert meine szenische Kammermusik „... dem All-Einen“ in einem Moment höchster formaler Verwicklung jäh abbrechend die einsame Melodie aus dem langsamen Satz der späten A-Dur Klaviersonate. Und am Wendepunkt meines Streichquartetts „Landschaften der Seele“ schleicht sich fast unmerklich das vorsichtig tastende Violin-Solo aus dem zweiten Satz des C-Dur Streichquintetts ein. Wie Schubert im Schatten des großen Beethoven seinen Weg sucht, so denke ich sucht auch die Kunstmusik der Gegenwart neue Bahnen jenseits von „Moderne“ und „Postmoderne“. Dabei geht es wenigstens mir nicht darum, stilistisch in die vermeintlich „gute alte Zeit“ zurückzublicken, sondern ein Stück der Ernsthaftigkeit und Offenheit zurückzugewinnen, mit der Schubert seine Hörer immer wieder entwaffnet. In „Traumspiel“ wird man nirgends romantische Anleihen gewahr werden. Zwar wird mit motivischem Material aus der „Unvollendeten“ gespielt, ja, jedes musikalische Element läßt sich bei näherem Betrachten darauf zurückführen. Doch sind diese Beziehungen nicht vordergründig und werden durch die ständige Berührung von Ton und Geräusch zusätzlich verdeckt. Überhaupt ist der Ton hier nicht das selbstverständliche Material der Komposition, sondern ihr Grenzfall, eine Ebene, um die gerungen wird. In diesem Sinne kann man „Traumspiel“ insgesamt als ein Ringen beschreiben, in dem Momente von Glücks- und Alptraum jäh wechseln, um in jeder Hinsicht vorzubereiten auf ein bewußteres Erhorchen musikalischer Innerlichkeit, jener „unbewußten Übung in Metaphysik“ von der Schopenhauer einmal sprach.

spektral (2003)

Elf Stücke über Farbsymbole in Gedichten Georg Trakls

für Flöte, Oboe, Klarinette, 2 Schlagzeuger, Harfe, Klavier, Violine, Viola, V’cello

UA 1.6.2003, Detmold, Aula der Musikhochschule

Konzertmitschnitt WDR 2003

Farben nehmen wir in der Regel mit den Augen wahr. Aber um unsere Vorstellungen von Farben ranken sich zugleich komplexe Assoziationen von (wie ich es nennen möchte:) „Seelenbildern“. Solche Seelenbilder liegen in Anschluß an die Lyrik Georg Trakls, für die sie in jeder Hinsicht substantiell sind, meiner Komposition „spektral“ zugrunde. Jedes der elf aphoristischen Stücke beleuchtet einen Farbtopos aus Trakls Dichtung und kleidet ihn in eine spezifische Instrumentation, die vom Solo bis zum zehnköpfigen Ensemble reicht. Durchaus in Entsprechung zum Lebenslauf Trakls, gezeichnet vom seelischen Verfall angesichts der Schrecken des ersten Weltkrieges, verdüstern sich auch in meiner Musik die Farben zusehends. Besonders die drei letzten Sätze entstanden unter dem Eindruck der zynischen Kriegsereignisse im Frühjahr 2003.

  1. ...rauscht in der Seele des Fremdlings das glühende Grün (Ensemble)
  2. Mit silbernen Dornen (Harfe)
  3. Stille wohnt in blauen Räumen (Ensemble)
  4. purpurnes Lachen (Oboe, Klarinette, Schlagzeug)
  5. Immer lehnt am Felsen die weiße Nacht (Klavier)
  6. Ein blauer Augenblick ist nur mehr Seele (Flöte, Harfe)
  7. In brauner Schatten Ruh (Streichtrio)
  8. so das Gold in grauen Wolken starb (Flöte)
  9. Wanderer im schwarzen Wind (Ensemble)
  10. wandeln wir an roten Mauern hin (Streichtrio, Klavier)
  11. Ihr grauen Türme... (Ensemble)

... mit Bach (2002/2009)

für Flöte Englischhorn Klarinette Fagott Harfe Vibraphon Zimbeln Violine, Viola, V’cello

UA 26.2.2002 Duisburg, Lehmbruck-Museum, Ensemble Horizonte

Konzertmitschnitt Radio Bremen 2009

Zerlegt in seine kleinsten Elemente wird Bachs Choralsatz „Jesu bleibet meine Freude“ zu einer groß angelegten Klangfläche aufgefächert, die es dem Hörer ermöglicht, der Komposition und De-Komposition musikalischer Ideen bis in feinste Verästelungen zu folgen.

Passacaglia (2006)

für Flöte, Klarinette, Fagott, Posaune, Harfe, 2 Schlagzeuger, Violine, Viola, V’cello

UA 5.11.2006 Minden, St. Martini Kirche, Ensemble Horizonte

Konzertmitschnitt Radio Bremen 2009

Die Passacaglia als Folge von Variationen über einem gleichbleibenden Fundament ist eine der einfachsten, sinnlich einprägsamsten musikalischen Formen. Von Monteverdi bis Webern widmeten ihr Komponisten immer wieder zentrale Werke. An Bachs c-moll-Passacaglia für Orgel orientiert sich meine Ensemble-Komposition, treibt aber scheinbar eher ein Versteckspiel mit dem 8-taktigen Bach’schen Thema, ohne es doch an irgendeiner Stelle aus dem Auge zu verlieren. Im Ergebnis hochgradiger klanglicher Verfremdung stellt sich schließlich sogar eine um so eindringlichere Affirmation dieses Themas ein.

tenebrae (2005)

für Oboe und Streicher

UA 5.3.2006 Neuss, Clemens Sels Museum, Ensemble Horizonte

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit spielt in meinem kompositorischen Denken stets eine große Rolle. In diesem Fall sind es die "Schatten" einer Vergangenheit, die in Deutschland von der schier unvorstellbaren Kluft zwischen klassisch-romantischer Hochkultur und der Barbarei des Rassenwahns geprägt wird. So basiert "tenebrae" auf einer Reminiszenz, einem Motiv von Brahms, entnommen dem Allegretto-Satz der 3. Sinfonie, das seiner gesanglichen Innigkeit entkleidet und rhythmisch verformt ausweglos in sich kreist, während die Oboe zunehmend obsessiv aus diesem Rotieren auszubrechen sucht. Das c-moll-Gerüst der Vorlage bleibt in den Streicherstimmen durchgängig präsent, während sich die Oboe in entlegene Tonräume entfernt und träumerisch dem sehnsuchtsvollen Ausdruck der Brahms-Melodie nachspürt. Das Stück entstand anläßlich einer Ausstellung mit Werken des Malers und Graphikers Max Klinger, Zeitgenosse und Freund von Brahms.

Railroad Turnbridge (2006)

für Englischhorn, Klarinette/Baßklar., Posaune, Akkordeon, Klavier, 3 Schlagzeuger, Violine, V’cello

UA 13.5.2006 Straßenbahndepot Bielefeld-Sieker

Kompositionsauftrag des Stadttheaters Bielefeld

Der Reiz immer neuer perspektivischer Facetten und technischer Details einer Eisenbahn-Drehbrücke inspirierte den amerikanischen Maler und Bildhauer Richard Serra 1975/76 zu dem außergewöhnlichen Kurzfilm Railroad Turnbridge. Angeregt durch Serras nüchtern-überwältigende Bilder entstanden musikalische Variationen über ein minimalistisches Klangfeld, das eine gewisse Nähe zu Phil Glass verrät, der selbst ein enger Freund des Künstlers ist. Serras Blick und die Sprache der „minimal-music“ begegnen sich in der Suche nach einfachen Strukturen, die durch allmähliche Verschiebung und Überlagerung ihren Zauber entfalten.

L’Aura serena (2008)

musica riservata für Harfe und Gitarre

UA 5.7.2008 Würzburg, Spitäle, Duo Mangold-Schröder

Meine unmittelbare Assoziation zu der Duo-Kombination Harfe/Gitarre war die einer Atmosphäre vornehmer Zurückgezogenheit, feiner leiser Klänge, jene Stimmung einer musica riservata, die ich bildnerisch eingefangen finde in den detailversessenen Musiker-Darstellungen Jan Vermeer Van Delfts aus dem 17. Jahrhundert. Ausgehend von jener Epoche war es nur natürlich, daß ich als Tribut an die Blütezeit der Madrigalkomposition im Titel Petrarca zitiere und formal auf die zeittypische harmonische Form der Folia zurückgreife. Trotz aller historischen Reflexion ist L’Aura serena Musik der Gegenwart. Die Annäherung an die Klangsprache des 17. Jahrhunderts bleibt eine flüchtige Berührung, die schließlich recht dramatisch ausgeschlagen wird.

selbdritt (2008)

szenische Kammermusik für drei Violinen

UA 17.9.2008 Winterthur, Theater am Gleis, Bettina Boller, Rahel Kunz, Egidius Streiff

Ausgangspunkt meiner szenischen Kammermusik selbdritt ist das Spannungsverhältnis zwischen Individualität und kollektiver Assimilation, wie es den chorisch besetzten Streichern im Orchester durchaus vertraut ist. Die Musik entwickelt ein episodisches Geschehen, angesiedelt zwischen simultanem Agieren und Dissoziation, zwischen Gleichberechtigung und Dominanz, zwischen unbefangener Zuversicht und Zersetzung. So ist selbdritt im wörtlichen Sinn eine musikalische Studie über die eigenartige Konstellation, der selbe und doch zu dritt zu sein.

Lamento (2008)

Musik mit Monteverdi für Ensemble (Flöte, Oboe, Klarinette, Harfe, Violine, Viola, V’cello)

UA 9.11.2008 Minden, Ensemble Horizonte

Wie in einer surrealen Traumsequenz durchstreift der Hörer hier geheimnisvoll verfallene Klanglandschaften, inspiriert von Eindrücken aus Andrei Tarkowskis Film "Nostalghia", um schließlich ganz unvermittelt auf einen verborgenen Schatz zu stoßen: in kristallener Reinheit lassen die Instrumente Monteverdis „Lamento della Ninfa“ anklingen - Klagegesang aus längst vergangener Zeit. Und wenn das Idyll auch bald in der Ferne verweht, so bleibt als Reminiszenz doch stets der „Lamentobaß“ unser Begleiter.

Dem Unendlichen (2009)

Kantate nach Klopstock für Sopran, Flöte/Picc., Oboe, Klarinette, Schlagzeug, Viola,V’ cello

UA 22.11.2009 Minden, St. Martini Kirche, Ensemble Horizonte, Katrin Bähre (Sopran)

Das gleichnamige Gedicht von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) bildet die Folie, auf der sich eine Hymne auf das Göttliche in zunehmend bohrendere Fragen nach dem Warum individuellen Schicksals verwickelt sieht. Klopstocks Optimismus wird kontrapunktiert und überlagert von einem Klagegesang, in dem unschwer Motive aus Gustav Mahlers Kindertotenliedern auf Worte von Friedrich Rückert erkennbar sind. Aus diesem Gegensatz bezieht die Musik ihre formgebende Spannung.

Dem Unendlichen

Wie erhebt sich das Herz, wenn es dich,
Unendlicher, denkt! wie sinkt es,
Wenns auf sich herunterschaut!
Elend schauts wehklagend dann, und Nacht und Tod!

Allein du rufst mich aus meiner Nacht, der im Elend, der im Tod hilft!
Dann denk ich es ganz, daß du ewig mich schufst,
Herlicher! den kein Preis, unten am Grab', oben am Thron,
Herr Herr Gott! den dankend entflamt, kein Jubel genug besingt.

Weht, Bäume des Lebens, ins Harfengetön!
Rausche mit ihnen ins Harfengetön, krystallner Strom!
Ihr lispelt, und rauscht, und, Harfen, ihr tönt
Nie es ganz! Gott ist es, den ihr preist!

Donnert, Welten, in feyerlichem Gang, in der Posaunen Chor!
Du Orion, Wage, du auch!
Tönt all' ihr Sonnen auf der Straße voll Glanz,
In der Posaunen Chor!

Ihr Welten, donnert
Und du, der Posaunen Chor, hallest
Nie es ganz, Gott; nie es ganz, Gott,
Gott, Gott ist es, den ihr preist!

"Vor des Wassers fließendem Gesicht" (2010)

Reflexionen über ein Rilke-Gedicht für kleinen gemischten Chor, Flöte, Klarinette, Posaune, Harfe, Schlagzeug, Violine, Viola und V’cello

UA 24.9.2010 Detmold, Sommertheater, Ensemble Horizonte, Gesangsensemble tonart

Ein Gedicht aus Rainer Maria Rilkes „Sonetten an Orpheus“ bildet die Grundlage der Komposition. Rilke beschreibt hier einen alten Brunnen, der gleich einem Mund Wasser aus den Tiefen der Erde ausspuckt in ein marmornes Becken, das wie ein Ohr die „Äußerungen“ aufnimmt. Beide, Mund und Ohr gehören der selben Erde an, die somit ein ständiges Selbstgespräch führt, das wir Menschen, indem wir etwa einen Krug unter den Wasserstrahl halten, nur unterbrechen würden. Die Musik beansprucht weniger eine Deutungshoheit, vielmehr schildert sie in zarten Tönen unmittelbare Empfindungen und Gedanken beim Lesen und Entschlüsseln dieser Verse.

Rainer Maria Rilke:
Die Sonette an Orpheus
Geschrieben Château de Muzot im Februar 1922
Zweiter Teil
XV

O Brunnen-Mund, du gebender, du Mund,
der unerschöpflich Eines, Reines, spricht, —
du, vor des Wassers fließendem Gesicht,
marmorne Maske. Und im Hintergrund

der Aquädukte Herkunft. Weither an
Gräbern vorbei, vom Hang des Apennins
tragen sie dir dein Sagen zu, das dann
am schwarzen Altern deines Kinns

vorüberfällt in das Gefäß davor.
Dies ist das schlafend hingelegte Ohr,
das Marmorohr, in das du immer sprichst.

Ein Ohr der Erde. Nur mit sich allein
redet sie also. Schiebt ein Krug sich ein,
so scheint es ihr, daß du sie unterbrichst.

Gravity’s Rainbow (2010)

für Blechbläserensemble und Schlagzeug

UA 1.10.2010 Detmold, Hangar 21, Ensemble worldbrass

Der Titel dieser Rhapsodie für Blechbläserensemble und Schlagzeug verweist auf einen Roman von Thomas Pynchon, der in deutscher Übertragung als „Die Enden der Parabel“ erschien. Die vielfach zerfaserte Erzählhandlung führt uns ins zerstörte Deutschland unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs und schildert die wirre Suche alliierter Geheimdienstler nach der geheimnisumwitterten V 2-Rakete. Um den Flugkörper, seine Bahn und seine Erbauer rankt Pynchon ein Geflecht von Assoziationen, die abrupt zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und drastischer Frivolität springen. Vor diesem Szenarium spannt meine Musik eine Klanglandschaft auf, die bedrohliche Detonationen mit dem Säuseln der Ventile, Traumverlorenheit mit unvermittelten Anklängen an verfallene Reste deutscher Musikkultur verwebt.

Phantasma (2011)

für großes Orchester

UA 21.1.2012 Cottbus, Staatstheater, Philharmonisches Orchester Cottbus, Ltg. Evan Christ

Meinem Orchesterstück »Phantasma« liegt die Vorstellung einer nächtlichen Szenerie zugrunde, in der ein einsamer Wanderer ruhelos durch die Gassen einer Stadt streift. In die Geräuschkulisse der Sommernacht mischen sich unvermittelt Töne innig sanglicher Hausmusik, die aus offenen Fenstern herüberwehen und in einen unwirklichen Kontrast zur Unruhe des lyrischen Ich treten. Lassen die zart kammermusikalischen „Hörfenster“ die rastlose Grundstimmung des Orchestersatzes zunächst eher noch in vermehrter Heftigkeit ausbrechen, kommt es schließlich zu jenem glücklichen Moment, da die Sphären des Draussen und Drinnen verschmelzen, das Orchester in die ruhige Kantilene einstimmt, bevor die Turmuhr zwölf schlägt und das Spiel beendet. In das Sujet fließt neben eigenem Erleben vor allem die Faszination literarisch-musikalischer Vorlagen ein, etwa Schuberts Heine-Vertonung „Der Doppelgänger“ oder Dallapiccolas „piccola musica notturna“ über Antonio Machados Gedicht „Noche de verano“ (Sommernacht), das mit den Worten endet:

„Ich schlendere durch diesen alten Ort
einsam, einem Geiste gleich“
(im spanischen Original: ...solo, como un fantasma“)

Hierher rührt der Titel meiner Komposition, der gleichwohl auch für die Konnotation „Traumbild“ oder „Imagination“ steht.

Du meine Seele singe (2012)

rituelle Szene für drei Spieler

UA 28.10.2012 Enger, Stiftskirche, Akio Ogawa-Müller (Trp), Gerdie Broeksma (Hf), Kostas Argyropoulos (Sgz)

Das bekannte Kirchenlied, dessen Worte Paul Gerhard unmittelbar nach der Katastrophe des 30-jährigen Krieges schuf, wird in meiner Komposition eher tastend und beladen mit unausgesprochenen Fragen aufgegriffen. Nicht der Körper, sondern die Seele, diese ominös-immaterielle Substanz soll es sein, die den Gesang artikuliert. Ihr Gesang gibt sich – in der Melodie von Ebeling - selbstsicher aufsteigend und zum Himmel strebend in den Stufen des Dreiklangs, der trias harmonica. Dieses Moment übernimmt in meinem Stück die Trompete, die zu den eher materiellen und bisweilen bedrohlichen Klängen von Harfe und Schlagzeug einen lyrischen Gegenpol bildet, indem sie die Dreiklangstöne „ertastet“. Sowohl räumlich als auch musikalisch findet eine allmähliche Annäherung beider Pole statt, die in einer Überblendung des Abendmahlsmotivs aus Wagners Parsifal über das Kirchenlied kulminiert. Mit dem Abbruch der „unendlichen Melodie“ beginnt ein Dissoziationsprozess, an dessen Ende sich die Trompete wieder von den übrigen Spielern entfernt.

transit (2012/13)

Vier Allusionen für Streichquintett (2 Vl, 2 Va, Vc)

UA 12.4.2013 Zagreb, Philharmonie (Musikbiennale), Art Ensemble NRW, Ltg. Miro Dobrowolny

  1. Auf verwachsenen Pfaden
  2. Traumbrücken
  3. Gebrochene Bögen
  4. Vision im Morgenlicht

Das viersätzige Werk vermittelt in unterschiedlichen Klangbildern die Idee des Durch- und Überschreitens, wie sie in der Musiktheorie etwa als "transitus" (Durchgangsnote) geläufig ist. Strukturen werden hier brückenartig angelegt und entwickelt, aber mitunter auch einer Gefährdung ausgesetzt. Bogenform und innere Spannung als Konstruktionsprinzip berufen sich letztlich auf das tonale Dissonanzprinzip. Der locus classicus dafür, die "Tristan"-Harmonik versteckt sich anagrammatisch nicht nur im Titel, sondern wird verschiedentlich Grundlage des Kompositionsprozesses.

Jenseits der Bläue (2013)

Klanggedicht für sieben Instrumente

UA 9.6.2013 Kassel, Alte Brüderkirche, Ensemble Horizonte

Ferne Konturen der Landschaft erscheinen uns blau. Daran entzündet sich die Vorstellung des Geheimnisvollen, Entrückten, das Gegenstand einer unbestimmten Sehnsucht wird. Die Farbe am oberen Ende des Lichtspektrums korrespondiert mit den höchsten Schwingungen und schlägt bei weiterer Steigerung ebenso ins undurchdringliche Schwarz um, wie die akustischen Schwingungen ins Reich des Unhörbaren. Diesem Moment der Transzendenz geht die Komposition für sieben Spieler nach. Doch immer wieder schlägt auch der Gegenentwurf einer von messbarer Genauigkeit bestimmten Weltsicht durch.

sprachlos (2014)

Diskurs für zehn Musiker

UA 15.3.2014 Münster, Ensemble des Stationen-Projekts NRW

In „sprachlos“ gehe ich einem Thema nach, das mich seit ich Musik mache nicht loslässt: Wie verhält sich Musik zu Sprache? Ist sie als begriffslose Kunst gewissermaßen der Gegenentwurf zum Medium der Worte? Oder ist sie selbst eine Art von Sprache, gar jene „Sprache des Herzens“, zu der sie bisweilen verkitscht wird? Immerhin verfügt Musik über eine erstaunlich differenzierte Rhetorik und, glaubt man den Aussagen einiger Komponisten, sogar über eine eigene Logik. – In meinem musikalischen Diskurs erscheinen Musik und Sprache zunächst einmal als konkurrierende Welten. Zum anfänglichen „Gespräch der Instrumente“ tritt der Gesang, traditionell das Bindeglied zwischen Wort und Ton. Der Stimme fällt in meinem Stück die Aufgabe zu, in Worten über die Bedingungen möglicher Kommunikation zu räsonieren, wobei sie sich in ein immer obsessiveres und zunehmend absurd-zirkuläres Theoretisieren verstrickt. Ich greife hierbei collagehaft auf sprachphilosophische Texte von Wittgenstein und Grice zurück, deren Inhalte sich freilich völlig dem dramaturgischen Geschehen unterordnen. Die Entwicklung treibt zu einem Kulminationspunkt. Die Worte versagen. In einer langen Vokalise löst sich die Spannung. Eine Reminiszenz barocker Rhetorik unterstreicht die kommunikative Ausdrucksfähigkeit purer Musik - für mich stets aufs Neue ein Wunder.

Silhouette(2015)

für Ensemble (9 - 10 Spieler)

UA 7.5.2015 Herford, MARTa, Ensemble Horizonte

Die Komposition „Silhouette“ entstand 2015 anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des von Frank Gehry entworfenen Museums MARTa in Herford. Tatsächlich spielen die geschwungenen Formen, die unberechenbaren Perspektiven, die verschwebenden Raumfluchten dieser großartigen Architektur in den musikalischen Ablauf hinein, etwa indem die Musik häufig eindeutige Tonhöhen meidet. Das führt immer wieder zu sog. „Glissandi“, mit denen zugleich auf den großen Mittler zwischen Musik und Architektur, den griechisch-französischen Komponisten Iannis Xenakis angespielt wird. Er, der zeitweise Mitarbeiter des Architekten Le Corbusier war, entwarf nicht nur eine Architektur geschwungener Oberflächen, die auf die Arbeit Gehrys vorausweist, sondern liebte das Glissando als musikalisches Stilmittel, wie etwa in seinem frühen Orchesterwerk Metastasis. „Silhouette“ gleicht formal einem Rondo mit drei „Topos“ genannten Zwischenspielen, die bestimmte Raumsituationen im Gehry-Bau klanglich nachempfinden. Während der Rondo-Satz rhythmisch geprägt ist, fallen die Topoi als meditative Betrachtungen etwas aus der Zeit. Vor allem „Topos 3“ am Ende des Stückes ist ein zarter, fast scheuer Blick nach oben in die unbestimmten Sphären einer „unendlichen Melodie“

Toccata (2016)

für drei Gitarren

UA 19.1.2017 Mannheim

Lucia Enzmann, Rhea Juli und David Strüder

Der Titel leitet sich ab vom italiensichen "toccare", was berühren, aber auch schlagen bedeutet. Entsprechend setzt die Komposition nicht das typische Repertoire an Spielweisen der Gitarre voraus, sondern entwickelt über verschiedenste Weisen das Instrument zu berühren ein Klangspektrum, in dem der sonore Klang mit definierter Tonhöhe eher als Besonderheit denn als Selbstverständlichkeit auftritt, somit aber auch eine besondere Aufmerksamkeit erlangt.

Nachtphantasie (2017)

sublime Berührungen für Stimme und Klavier

UA Basel 30.9.2017

Christine Simolka (Stimme), René Wohlhauser (Klavier)

Diese kurze Szene reflektiert musikalisch die gewöhnliche Situation eines Liederabends. Eine Sängerin, ihr Klavierbegleiter - was empfinden sie füreinander? Ist vielleicht der eine dem anderen zu extrovertiert, zu nüchtern, zu laut oder zu leise? Verkörpert sich in der künstlerischen Beziehung die perfekte Harmonie zweier verwandter Seelen? Oder ist es nichts als eine professionelle Zusammenarbeit? Oder womöglich die qualvolle Sublimierung unerfüllter Wünsche? - Nun, im vorliegenden Fall scheinen die Voraussetzungen recht ungleich: während die Sängerin träumerisch durch Novalis' "Hymnen an die Nacht" schreitet, verbirgt sich unter den Noten des Pianisten Eduard Hanslicks bissige Abrechnung mit der "verrotteten Gefühlsästhetik", aus der er bisweilen kurze Sentenzen beisteuert. Auf subtile Weise scheint sich das Paar beständig zu verfehlen. Mal stockend, mal im gleichzeitigen Redeschwall, entspannt sich ein Dialog, der eigentlich keiner ist. Wäre da nicht die Phantasie...

Spiel im Wind (2018)

Raummusik für vier Harfen

UA Detmold, Hangar 21 6.10.2018

Harfenquartett Arparlando mit Valeska Gleser, Sarah Günnewig, Angela Klöhn, Helene Schütz

Im Spiel regiert häufig der Zufall. Das Rauschen der Blätter im Wind, Laute der Äolsharfe, Klangspiele in Gärten: das alles sind solche Zufallsereignisse im Wechselspiel des Windes mit den Elementen. Ihnen wohnt ein ähnlicherZauber inne wie glitzernden Wasseroberflächen, die im Sommerwind gekräuselt blinken – Reflets dans l’eau, um den Titel eines Klavierstücks aus Claude Debussys Images aufzugreifen. Ihm, dem vor 100 Jahren gestorbenen Künstler an der Schwelle zur Moderne und seiner kongenialen Umsetzung von Natureindrücken in Musik ist das Quartett gewidmet.

Wald der Widersprüche (2018/19)

für sieben Spieler

UA Basel/Winterthur 26./27.3.2019

pre-arte-soloists

Boris Previšic (Flöte) | Matthias Arter (Oboe) | Raphael Camenisch (Sax.) | Vladimir Blagojevic (Akk.) | Gilles Grimaître (Klavier) | Tobias Moster (V'cello) | Aleksander Gabrys (Kontrabass)

Auftragswerk von musica aperta Winterthur

Der Wald ist ein Ort des Wucherns, der Unübersichtlichkeit. Im Wald lauern Gefahren, er bietet zugleich Schutz und Versteck, in ihm verlaufen sich die Märchenkinder... Der Wald ist aber auch ein Idyll symbiotischer Beziehungen; aus dem Widerstreit der vielen Kreaturen erwächst hier eine wunderbare Einheit. Es sind solche Gedanken und weniger die geheimnisvollen Verse aus Rilkes „Stundenbuch“, in denen ich der Formel vom „Wald der Widersprüche“ erstmals begegnete, die den Inhalt meiner so betitelten Kammermusik für sieben Spieler zunächst bestimmen. Der Widerspruch wird immer wieder zur treibenden Kraft des musikalischen Geschehens. Jeder Gestalt wohnt ein Moment des Negativen inne, das sich als arglose Umspielung oder Resonanz einschleicht und allmählich zur Macht drängt, um das Vorherige auszulöschen. So weicht die rhythmische Präzision des Beginns schnell einer aus Luftgeräuschen entwickelten Textur, die ihrerseits wieder das Moment des Rhythmischen in sich aufnimmt und daran kollabiert. Ein unausgesetzter Konflikt der Gesten und Strukturen, dem sich selbst die Ruhepole der Komposition, die beiden eingelagerten „Traumbilder“ nicht entziehen können. Die einsame Kantilene der Oboe im „Traumbild II“ wird flankiert von einer sehr nebensächlichen Girlande im Saxophon, die zunehmend Dominanz gewinnt und schließlich das Traumbild sprengt. Auf eine finale Steigerung folgt dann doch noch eine kleine Rilke-Reminiszenz als Schluss: Die Musik klingt aus mit einem sanften Wiegenlied-Motiv im Klavier – ganz in Entsprechung zu Rilkes Worten: „Du bist der Wald der Widersprüche. Ich darf dich wiegen wie ein Kind...“

Fragile Harmonie (2019)

Beethoven-Momente für Ensemble

UA Brüssel 2019

Ensemble Sturm und Klang

Die Ensemble-Komposition „Fragile Harmonie“ ist strukturell geprägt von akkordischen Konglomeraten in der Musik Beethovens. Solche finden sich in zum Teil erstaunlicher Dissonanz etwa im Finale der Siebten Sinfonie oder in der Durchführung der Eroika als hoch energetische Komplexe, die förmlich zu explodieren drohen. Damit ist bereits der affektive Gehalt angesprochen, der die Dramaturgie des Stückes bestimmt. Auch andere charakteristische Elemente der Musik Beethovens finden hier Widerhall: das diffus Suchende, das repetitiv Insistierende, das bestimmt Aufschwingende, das jäh Ausbrechende. So ergibt sich eine äußerst fragile Gemengelage voller tiefer Furchen und Faltungen.

Umwölkter Strahl (2019)

auf den Spuren von Beethovens Klaviersonate d-moll (op. 31 Nr. 2) für Klavier solo

UA Bonn 2020

Susanne Kessel (Klavier)

Auftragswerk "250 piano pieces for Beethoven"

Beethoven beschreitet in seiner Klaviersonate d-moll einen Weg, der auf den Eintritt des Wortes in die Instrumentalmusik vorausweist, ein Schritt, den er dann in der 9. Sinfonie tatsächlich, wenn auch in konventioneller Aufgabenteilung, vollzogen hat. In der Sonate sind es rezitativische Passagen, die aus Klangwolken aufsteigend stimmliche Assoziationen voller dramatischer Affekte wecken, umso mehr als der Komponist einen literarischen Bezug zu Shakespeares The Tempest andeutet. Der Moment des Hinzutretens der Stimme in reiner Instrumentalmusik ist für mich von großem Zauber, nicht zuletzt, weil er immer noch als Regelbruch empfunden wird. Ich verwende das vom Spieler gesprochene Wort in vielen Stücken, wenn man so will dem Strahl folgend, den Beethoven in die Musikwelt gesandt hat. Er freilich geht nicht über das stilisiert musikimmanente Gespräch hinaus. Selbst im letzten Streichquartett erscheinen die motivunterlegten Worte („Muß es sein? - Es muß sein!“) nur als Motto, nicht als reale Unterhaltung von „vier vernünftigen Leuten“. - Natürlich bleibt meine Spurensuche diesem absolut-musikalischen Ansatz treu. Aus dem Klavierklagt es, raunt und brüllt, aber wortlos, gleich der Naturgewalt des Sturms.

Verletzliche Vokalise (2020/21)

Elegisches Intermezzo für Frauenstimme und Klavier

UA 2021 Hannover

Laura Schandry (Stimme), Johannes Nies (Klavier)

Halb szenisch wirft dieses Duo einen Blick auf die Gefühlswelt und die Krisen im Zusammenleben eines Künstlerpaars. Man mag dabei etwa an Clara und Robert Schumann denken; hier jedoch liefern der dänische Komponist Carl Nielsen und seine Frau, die Bildhauerin Anne Marie Brodersen in Briefen und Tagebuchnotizen die Textvorlage. Ohne sie im Duo unmittelbar zu personifizieren - mit seinen mitunter hämmernden und meißelnden Klängen scheint das Klavier tatsächlich eher als die Frauenstimme die Bildhauerin zu repräsentieren - entwickelt sich zwischen den Protagonisten ein Spannungsverhältnis, das die Verletzungen eines langen gemeinsamen Lebens, die Ambivalenz von wechselseitiger Inspiration und Hem­mung, dem Bedürfnis nach Nähe und individueller Lebensgestaltung ahnen lässt. In einem Frühwerk, dem lateinischen „Hymnus amoris“ (1897) findet sich bei Nielsen ein Vers, der wie ein Motto über seiner Beziehung zu Anne Marie stehen könnte: „Amor est dolor meus, nil me altius vulneravit, nil tamen carius. - Die Liebe ist mein Schmerz, nichts hat mich mehr verletzt, doch nichts ist mir teurer“. Drängen die Gegensätze zu einem dramatischen Höhepunkt, so schließt die Komposition mit einem friedvollen Nielsen-Zitat aus seiner „Vocalise-Etude“ von 1927.